2014-02-18 - »Wir wissen viel zu wenig über die Pfadfinder« - FAZ

 

FAZ, 18.02.2014

Im Gespräch: Matthias Witte, Erziehungswissenschaftler

„Wir wissen viel zu wenig über die Pfadfinder“

Für eine der größten Jugendbewegungen der Welt hat sich die Forschung bisher nicht allzu sehr interessiert. Eine Tagung an der Uni Mainz soll das ändern. Organisiert wird sie von Matthias Witte.

Wir kommunizieren per E-Mail, weil Sie gerade als Forscher „im Feld" unterwegs sind. Etwa auf den Spuren der Pfadfinder?

Nein und doch ja. Ich forsche momentan über ein Kinderheim in einem kleinen Dorf im Herzen Mecklenburgs. Dort lebten von 1979 bis 1989 insgesamt 430 namibische Kinder, die im Rahmen eines Solidaritätsprojekts mit der namibischen Befreiungsbewegung Swapo in die DDR gekommen waren. ln dem Heim gab es zur Alltagsgestaltung auch das Konzept der Swapo-Pioniere. Wenn Sie einen weiten historischen Bogen schlagen, stammen die Swapo-Pioniere von der Pionierorganisation der DDR und damit auch von den Pfadfindern ab. Die sowjetische und später die DDR-Pionierorganisation haben ja einige Ideen von den Pfadfindern übernommen.

Zelten. Feuermachen. Spuren suchen und jeden Tag eine gute Tat tun - lassen sich Kinder im Zeitalter von Facebook und Smartphones für solche Freizeitbeschäftigungen noch begeistern?

Kinder sind sehr offen und neugierig, was diese spielerische Art des Unterwegsseins in der Natur angeht. Dinge entdecken, Knoten knüpfen, selbst für sich zu kochen - hier wird ihnen etwas zugetraut und auch von ihnen gefordert. Lernen durch Erfahrung ist ein sehr erfolgreiches pädagogisches Konzept der Pfadfinder. Gerade das Feuermachen wird in vielen Erlebnisberichten immer wieder hervorgehoben. Schwieriger als Kinder aber sind Jugendliche zu erreichen und dauerhaft zu begeistern. Hier ist die Konkurrenz mit anderen Freizeitmöglichkeiten und auch mit digitalen Welten sehr groß.

Was heißt das für die Mitgliederzahlen der Pfadfinderbünde? Bleiben die Kinder weg. wenn sie älter werden?

In Studien zur Jugendverbandsarbeit spricht man von der Krise in der Jugendstufe. Das betrifft nicht nur die Pfadfinder. In diesem Alter gewinnen die Gleichaltrigengruppe und der pädagogikfreie Raum an Bedeutung. Hier haben auch die Medienwelten ihre hohe Anziehungskraft. Jugendliche sind darüber hinaus Teil einer riesigen Konsumwelt, in der sie sich immer eigenständiger bewegen. Daneben ist die Ganztagsschule eine zunehmende Konkurrenz zur Jugendverbandsarbeit. Bleiben Jugendliche aber dabei, gilt meist die Regel: Einmal Pfadfinder, immer Pfadfinder.

Und am Ende bleiben dann die Berufsjugendlichen übrig, die mit fünfzig immer noch nicht von der Lagerfeuerromantik lassen können?

Das Engagement der Erwachsenen ist für die Verbände ganz wichtig. Mag sein, dass so mancher von ihnen von einer Sehnsucht nach Jugendlichkeit beseelt ist. Aber wer ist das nicht in einer Gesellschaft, die Jugendlichkeit zum Ideal erhebt? Für die Verbände jedenfalls ist es gut, dass so mancher nicht in den Bridge-oder Golf-Club abwandert, sondern sich weiterhin für Kinder und Jugendliche engagiert.

 

Matthias Witte ist Professor für Sozialpädagogik in Mainz.

Vorher lehrte er in Marburg Pädagogik des Abenteuers.

 

Foto privat

Die Pfadfinderbewegung ist ja sehr vielfältig. Hin und wieder hört man auch von Gruppen, die fragwürdigen Ideologien anhängen, etwa dem christlichen Fundamentalismus. Spielen solche Strömungen eine nennenswerte Rolle?

Wir wissen viel zu wenig über die Pfadfinderbewegung. Dies ist erstaunlich, denn mehr als 41 Millionen Kinder und Jugendliche aus über 215 Ländern und Territorien sind Pfadfinder. Robert Baden Powells Idee wurde und wird bis heute vielfach kopiert und manchmal auch missbraucht. Zum Beispiel hat die neonazistische Wiking-Jugend sich pfadfinderischer Elemente bedient. Im Hinblick auf die religiöse Vielfalt kommt es auf den Standpunkt an: Was für die einen fundamentalistisch ist, ist für die anderen konservativ pfadfinderisch. Dass Pfadfinder mit ihrer Betonung von Tradition, mit ihrer Kluft und ihren Ritualen auf manche Menschen heute befremdlich wirken mögen, kann ich nachvollziehen. Vor Vorverurteilung würde ich aber warnen.

Auf der "Fachtagung Pfadfinden" in Mainz, die am Freitag beginnt, wird sich ein Vortrag mit muslimischen Pfadfindern befassen. Gibt es die in Deutschland auch schon? Und wie stehen die christlichen Bünde zu ihnen?

Die ersten muslimischen Pfadfindergruppen in Deutschland entstanden vor gut drei Jahren. Die Grundkonzepte sind bei allen Pfadfindern gleich. Es geht letztlich darum, Kinder spielerisch zu verantwortungsvollen Menschen zu erziehen. Die religiösen Hintergründe sind dabei nicht so bedeutsam. Sicherlich gibt es mitunter Berührungsängste. Auf der Fachtagung widmen wir uns bewusst diesem Thema, weil wir denken, dass Begegnung, Austausch und Interesse aneinander helfen, Gemeinsamkeiten zu erkennen und Vorbehalte zu überwinden.

Waren Sie eigentlich selbst bei den Pfadfindern?

Weil ich in der ehemaligen DDR aufgewachsen bin, war ich kein Pfadfinder, sondern Pionier. Als Kind und Jugendlicher habe ich Handball gespielt, fürs Pfadfinden wäre keine Zeit gewesen, selbst wenn die Möglichkeit bestanden hätte, sich in einem Bund zu engagieren.

Die Fragen stellte Sascha Zoske.

Weitere Informationen zur Tagung unter www.fachtagung-pfadfinden.de.

 

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