»Führen oder Wachsenlassen« Zum jugendbewegten Männerbund in den Jahren um und nach dem Ersten Weltkrieg
Prof. Dr. Jürgen Reulecke, Gießen
Tagungsband 2010, S. 37-52
Zusammenfassung:
Bei den vielfältigen Strategien des Einwirkens auf die Heranwachsenden im frühen 20. Jahrhundert, in erster Linie auf die männlichen, war die 1927 von Theodor Litt auf den Punkt gebrachte Alternative „führen oder wachsen lassen“ (zugespitzt: Jugendpflege versus Jugendbewegung) von erheblicher Bedeutung. Bezogen auf den jugendbewegten Jungmännerbund: In den beiden großen Gelöbnissen aus jugendbewegten Kreisen – der „Meißnerformel“ der Freideutschen Jugend und Wandervögel vom Oktober 1913 und dem Gelöbnis der Neupfadfinder auf Schloss Prunn vom August 1919 – standen sich beide Auffassungen zunächst deutlich gegenüber. Hieß es auf dem Hohen Meißner, man wolle „aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit sein Leben gestalten“, so lautete der Kernsatz von Schloss Prunn: „Wir wollen unseren Führern, denen wir vertrauen, Gefolgschaft leisten.“ Nach 1919 kam es dann in der sich aus der Wandervogeltradition einerseits und der Pfadfinderei andererseits heraus entwickelnden „Bündischen Jugend“ zu vielerlei Annäherungen, aber auch unterschiedlichen Ausprägungen der Art und Weise, wie in den jugendbewegten Gruppen und Bünden insbesondere die Jungen „auf Fährte gesetzt“ wurden. Der Beitrag verfolgt, wie im Verlauf der 1920er Jahre dem Heranwachsenden zwei unterschiedliche Perspektiven in den verschiedenen Gruppen bzw. im jeweiligen „Bund“ angeboten wurden: zum einen die Treue zum (charismatischen) Führer, der dem Einzelnen in der Zeit seiner Adoleszenz das Finden des richtigen Pfades nahe brachte, und zum anderen die nachdrückliche Aufforderung zu einer individuellen „Selbsterringung“, d.h. zu einer selbstständigen Pfadsuche.